Gesamtstrategie für den dezentralen Ausbau Erneuerbarer Energien statt Stromtrassenbau

Bonn, 23. März 2011 Das gesamte Papier als PDF finden sie hier. Bundeswirtschaftminister Rainer Brüderle fordert den Bau neuer Großstromtrassen, um den Ausbau Erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Mindestens 3.600 Kilometer neuer Hochspannungsleitungen sollen für den großräumigen Transport zentral erzeugter Erneuerbarer Energien errichtet werden. Teil des Vorhabens ist eine drastische Einschränkung der Mitbestimmung der Bürger über ein spezielles Gesetz: das Netzausbaubeschleunigungsgesetz ("NABEG"). Kommunen werden nach diesem Konzept dazu verpflichtet "im Interesse des Gemeinwohls" gegen einen finanziellen Ausgleich einen Leitungsbau über Ihre Gemarkung hinzunehmen.

Hier handelt es sich um ein Geschenk an die Energiekonzerne, denen nicht nur mit hohen Einspeisetarifen und günstigen Krediten der Einstieg in die Offshore-Windenergie schmackhaft gemacht werden soll, sondern auch die Erneuerbaren Energien insgesamt sollen in das Modell der fossil-atomaren Energieversorgung eingepasst werden. Dies ist augenscheinlich die Konzession der Bundesregierung für die vorzeitige Abschaltung alter Atomkraftwerke.     

Es kann keine Lösung sein, mit viel Geld riesige Stromtrassen zum weiträumigen Verschieben von Strom zu errichten, wenn dies nur dazu dient, möglichst lange den Systemkonflikt zwischen regenerativer und konventioneller Energieerzeugung herauszuschieben und die Gewinninteressen der Energiekonzerne zu wahren. Eine Gesamtstrategie für den Ausbau der Erneuerbaren Energien müsste unter einem anderen Vorzeichen stehen.

Es ist bezeichnend, dass viele Gegner eines Ausbaus der Onshore-Windenergie nun anscheinend keine Probleme damit haben, neue gewaltige Stromtrassen durch das Land zu ziehen, ohne dabei die Interessen der Bürger zu berücksichtigen. Im Gegensatz dazu hatten sie aber vorher immer auf Aspekte wie Landschaftschutz und den Schutz der Bevölkerung vor einer zu hohen „Belastung“ durch den Ausbau der Windenergie verwiesen.

Gerade in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern hinkt der Ausbau der Windenergie weit hinter anderen Bundesländern zurück. In Baden-Württemberg wurden im Jahr 2010 nur 12 Windenergieanlagen aufgestellt, ein Negativrekord. Sogar im Saarland und in Bremen wurden mehr Anlagen aufgestellt. In diesem Kontext erscheint es paradox, dass das Stuttgarter Wirtschaftsministerium gerade erst einen Windatlas präsentiert hat. Er bezeichnet zahlreiche Standorte in diesem Bundesland, an denen Windverhältnisse wie an den deutschen Küsten vorzufinden sind.     

Es liegt also nicht daran, dass es hier an geeigneten Standorten für den Ausbau der Windenergie mangelt, sondern an einer politischen Blockadehaltung. Sie schützt die Energiekonzerne, indem die neuen regenerativen und zumeist mittelständischen Energieproduzenten bewusst ausgebremst werden. Würden die südlichen Bundesländer nur 1-2% ihrer Landesflächen für den Ausbau der Windenergie ausweisen, könnte die verfügbare Leistung in den nächsten Jahren mit für Binnenstandorte optimierten Windenergieanlagen schnell ausgebaut werden. Durch den späten Einstieg würden hier nur modernste Anlagen aufgestellt. Die hohe Leistung der heute angebotenen Windräder würde die Zahl der Anlagen dabei auf ein vertretbares Maß begrenzen. Dieser Effekt ist heute schon bei Repowering-Projekten zu beobachten, bei denen sich die Leistung eines Windparks trotz verminderter Anlagenzahl deutlich vergrößert. Auf diese Weise würde auch die Notwendigkeit entfallen, große Strommengen von der Nordsee bis in den Süden Deutschlands zu transportieren.

Über die räumliche Streuung der Windenergieerzeugung kann also der Bau neuer Stromtrassen deutlich reduziert werden. Dies erfordert selbstverständlich die Einbindung der Bevölkerung. Hier gilt es deutlich zu machen, dass eine Kommune die von einer neuen Stromtrasse durchquert wird, davon ökonomisch nicht profitiert. Sie ist weiterhin lediglich Hinterland der Transportinfrastruktur der Energiekonzerne, von denen sie abhängig bleibt. Durch die Errichtung einer begrenzten Zahl von Windenergieanlagen ließe sich das vermeiden. Statt abertausenden neuer Strommasten, die bei 3.600 Kilometern neuer Stromleitungen zu errichten wären, würde bei einem Ausbau der Windenergie im Süden Deutschlands und einem Repowering bestehender Windparks in anderen Bundesländern nicht nur die Streckenlänge neuer Stromtrassen reduziert, sondern die Gesamtzahl der Windenergieanlagen in Deutschland könnte sogar sinken.     

Hinzu kommt, dass der dezentrale Ausbau der Erneuerbaren Energien den Kommunen auf diese Weise neue ökonomische Perspektiven bietet. Immer mehr Kommunen in Deutschland haben dies erkannt und treiben energisch die Nutzung der Erneuerbaren Energien voran. Ein Multiplikatoreffekt der genutzt werden kann, um dieser Bewegung eine noch größere Breite zu geben. Damit nimmt die Raumordnung eine Schlüsselrolle für den Ausbau der Erneuerbaren Energien ein. Der Vorrang für Erneuerbare Energien muss auch hier gelten, aber nicht wie beim Stromtrassenbau im Sinne von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle über die Köpfe der Menschen hinweg, sondern als Teil einer nachhaltigen Regionalökonomie, die den Menschen die Vorteile Erneuerbarer Energien begreifbar macht.

Mit dem Abschalten der Altreaktoren bietet sich darüber hinaus eine Chance, die Stromerzeugung in Deutschland deutlich zu flexibilisieren. Nur so kann der Vorrang für Erneuerbare Energien wirklich garantiert werden. Und lassen sich Situationen wie heute vermeiden, bei denen fossile Großkraftwerke den Konzernen Einnahmen bescheren, während regenerativ erzeugter Strom ins Ausland wegdrückt und zu negativen Preisen angeboten wird. Anstatt neuer fossiler Großkraftwerke und langer Laufzeiten für die verbleibenden Atomkraftwerke, muss nun die Flexibilisierung der Energieerzeugung im Vordergrund stehen, um dem variablen Output von Wind und Sonnenstrom einen dynamischen Gegenpart bieten zu können. Dies beinhaltet z. B. den Bau schnell regelbarer Gaskraftwerke und insbesondere den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung, wie es Dänemark beispielhaft vorgemacht hat. Hier kommen circa 50% des Stroms aus KWK-Anlagen.

Fossiles Erdgas lässt sich nach und nach durch Biogas und synthetisches Methan ersetzten, das bei Stromspitzen  aus Wind- und Sonnenstrom gewonnen werden kann. Im nächsten Schritt wird es in das bestehende Erdgasnetz eingespeist. Wenn nötig, kann damit in flexiblen Kraftwerken innerhalb kürzester Zeit die Stromproduktion gesteigert werden. Auch dies ist eine Möglichkeit um Netzausbau zu vermeiden und durch eine Lösung zu ersetzen, die bestehende Infrastruktur auf ganze neue Weise nutzt. Das Erdgasnetz wird so ein essentieller Teil der Lösung der Speicherfrage, denn Energie kann hier für Stunden, Tage und Monate gespeichert werden. Sogar ein saisonaler Transfer von Energie wird möglich. Gleichzeitig eröffnen sich auf diese Weise neue Perspektiven: Für Stadtwerke, für die Betreiber von Hybrid- und Kombikraftwerken, den Transportsektor und die chemische Industrie.

Die Speicherfrage ist über Jahre vernachlässigt worden, obwohl schon das Erneuerbare-Energien-Gesetz 2009 die Möglichkeit gab, eine entsprechende Ergänzung vorzunehmen. Seitdem sind über zwei Jahre vergangen, während derer man über einen entsprechenden Anreiz im EEG schon viele Lösungen hätte realisieren können. Denn an verfügbaren Speichertechnologien mangelt es nicht. Das zeigt die seit 2006 von EUROSOLAR und dem Weltrat für Erneuerbare Energien ausgerichtete „International Renewable Energy Storage Conference“. Viele der hier vorgestellten Technologien werden bei entsprechender Massenproduktion eine deutliche Kostendegression vorweisen können.
    
Dazu zählen zum Beispiel die sogenannten Natrium-Schwefelbatterien, die auf breit verfügbare und billige Ausgangsmaterialien setzen. Bei einer Massenproduktion wäre es möglich, diese Technologie zu einem Preis von 50,00 €/kWh anzubieten. Aber auch bei anderen Batterietechnologien, wie Lithium-Ionen-Akkus oder Redox-Flow-Batterien, kann ein entsprechender Massenmarkt große Kostensprünge ermöglichen. Neben einem Anreiz im EEG scheint es darüber hinaus sinnvoll, ein gesondertes Förderprogramm für die Betreiber von regelbaren regenerativen Verbundkraftwerken aufzulegen. Milliardenkredite für den Ausbau der Offshore-Energie kommen vor allem den Energiekonzernen zu gute. Diese haben aber in den letzten Jahren nicht nur den Netzausbau vernachlässigt, sondern mit erhöhten Strompreisen Gewinne zu Lasten der Stromkunden erzielt.   

Daher erscheint es sinnvoll, dieses Geld eben nicht den Konzernen bereitzustellen, sondern zu nutzen, um die Umsetzung von Konzepten zur gesicherten und regelbaren Bereitstellung von Strom aus regenerativen Quellen zu fördern. Darüber hinaus darf sich der Ausbau intelligenter Stromnetze, sogenannter Smart Grids, nicht nur auf Pilotprojekte beschränken, sondern muss breit umgesetzt werden. Es ist ein Fehler, dass in diesem Zusammenhang die EU-Kommission wie auch die Bundesregierung den Bau von nationalen und grenzüberschreitenden Stromautobahnen in den Mittelpunkt stellen. Dem entgegnet der Verband kommunaler Unternehmen VKU zu Recht, dass Autobahnen nur mit entsprechend ausgebauten Auf- und Abfahrten sowie zuverlässigen Zubringern funktionieren. Laut VKU müssen deshalb Initiativen für eine nachhaltige Finanzierung sowie die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren auch für die Verteilnetzebene gelten.

Was den Bau neuer Stromtrassen angeht, so gilt, es die Ausnutzung bestehender Trassen zu erhöhen. Über eine Temperaturüberwachung der Freileitungen kann sich die potenzielle Windenergieeinspeisung deutlich erhöhen. So wird Netzausbau in Teilen überflüssig, zum anderen können neue Leitungen geringer dimensioniert werden. Auch die Modernisierung bestehender Leitungen reduziert die Zahl neuer Stromtrassen. So geht die Deutsche Umwelthilfe (DUH) davon aus, dass die Länge neuer Trassen gegenüber den von der Deutsche Energie-Agentur (dena) genannten 3.600 Kilometern um die Hälfte reduziert werden kann, wenn die bestehenden Trassen leistungsfähigere Leitungen erhalten würden. Eine Studie der Universität Duisburg hat darüber hinaus aufgezeigt, dass sich Anfangsinvestitionen für Erdkabel gegenüber wartungsintensiven Überlandleitungen langfristig rentieren.

Insgesamt zeigt sich, dass sich der Bau großer Stromtrassen deutlich reduzieren lässt. Das Konzept des Bundeswirtschaftsministers ist ein Zugeständnis an die großen Energiekonzerne, die ein maßgeschneidertes Netz erhalten, das ihnen erlaubt zentralisiert Erneuerbare Energien einzuspeisen. Es gibt ihnen die Hoheit über das Ausbautempo zurück und ermöglicht ihnen zudem, Strom aus fossil-atomaren Quellen durch ganz Europa zu verschieben. So lässt sich lokaler Widerstand immer aushebeln und das eigene Erzeugungsmonopol konservieren. Eine undemokratische Vision, die die Partizipation der im Zuge der Energiewende entstandenen Akteure wieder eingrenzen möchte.      

Eine rasche Energiewende, an der möglichst viele Menschen ökonomisch partizipieren und die verhindert, dass die Machtstrukturen, die wir heute im Energiesektor vorfinden, persistieren, erfordert andere, erfordert systemische Weichenstellungen, die über einen rein quantitativen Ausbau der Erneuerbaren Energien hinausgehen und die Schaffung eines regenerativen Energiesystems ermöglichen. Dies ebnet den Weg zu 100 % Erneuerbaren Energien und nutzt die Investitionsbereitschaft der neu entstandenen regenerativen Energiewirtschaft.

Valentin Hollain
Wiss. Mitarbeiter