2. Mai 1917 – Ein Brief für unsere Zeit
Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht

Würdigung von EUROSOLAR-Präsident Professor Droege:
Heute vor 105 Jahren schrieb die jüdische, russisch-polnische und eingebürgerte deutsche Antikriegsaktivistin, Frauenrechtlerin und Führerin der Arbeiterbewegung Dr. Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis über ihren Schmerz über die Gewalt gegen die Natur durch die menschliche „Zivilisation“. *

Wronke, 2. Mai 1917

(…) Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Pflanzengeographie und Tiergeographie. Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland: es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten. Mir war es so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, dass ich weinen musste. Es erinnerte mich an ein russisches Buch von Prof. Sieber über den Untergang der Rothäute in Nordamerika, das ich noch in Zürich gelesen habe: sie werden genau so Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen von ihrem Boden verdrängt und einem stillen, grausamen Untergang preisgegeben.

Aber ich bin ja natürlich krank, dass mich jetzt alles so tief erschüttert. Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein richtiger Mensch, sondern auch irgendein Vogel oder ein anderes Tier in Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den »Genossen«.

Quelle: https://rosaluxemburg.org/de/material/1007/

* Rosa Luxemburg richtete diesen Brief an Sophie Liebknecht, die in Russland geborene Sozialistin und Feministin, zweite Ehefrau von Dr. Karl Liebknecht, Antimilitarist und Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei von 1900. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden 1919 auf höheren Befehl von Freikorpssoldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division in Berlin ermordet. Luxemburg und Liebknecht wurden zu Märtyrern für den Sozialismus in Deutschland und in der Welt.

Das solare Zeitalter ist fokusiert auf den Erhalt, und die Wiederherstellung einer ganzen Natur, die Regenerative Dekade fordert Sofortmassnahmen zur gemeinsamen und umfassenden Konzentration auf diese nie dagewesene Aufgabe.

Peter Droege © 1 May 2022: Rosa Luxemburg Gedenkstätte, Lichtenstein Brücke Berlin