Kernenergie? Nein danke? Game over oder Auftakt weiterer Kernkakophonie?

Aus dem Kuratorenkanal von Claus P. Baumeister

Was geht hier vor?

Erstaunlicherweise rückt das Thema Kernenergie im Umfeld des realen Ausstiegs wieder verstärkt in den Fokus von Medien und Öffentlichkeit. Warum eigentlich, wenn es damit doch vom Tisch sein sollte. Die aktuellen Diskussionen hätte man vielleicht früher führen sollen.

Ein dem Autor bekannter emeritierter Professor für theoretische Kernphysik pflegte seine Faszination für die Kernspaltung scherzhaft damit zu untermauern, dass er (erfolglos) einen Nukes-only-Stromtarif forderte. Den wird er jetzt mit Sicherheit nicht mehr bekommen, nachdem vor wenigen Tagen am 15.4.2023 das Aus der verbliebenen drei AKWs umgesetzt wurde. Dafür möchte man allerdings nicht seine Hand ins Feuer legen, denn Totgesagte leben länger.

Von einer Trauerfeier des Physikprofessors ist nichts bekannt, aber dafür von Ausstiegspartystimmung der AKW-Gegner. Was gibt es da zu feiern angesichts der weiterbetriebenen maroden AKWs in unserer direkten Nachbarschaft?

Wir wollen hier nicht die Risiken der Kernkraft erneut diskutieren. Aber es ist und bleibt (bei allen Sicherheitsoptimierungen) eine Hochrisikotechnologie mit weltweit weitgehend ungelöstem Strahlungserbe für hunderttausende von Jahren. Jede Behauptung einer absoluten Sicherheit lässt sich schon theoretisch ad absurdum führen und mit gegenteiligen Erfahrungen (nicht nur mit Atomtechnologie) widerlegen. Jeder mögliche Fehler oder gar das Versagen ganzer Sicherheitsketten könnte desaströse Folgen haben, weil eine Kernschmelze nach wie vor nicht beherrschbar und radioaktive Leckagen nicht räumlich begrenzbar sind.

Gleichwohl mag auch ein erklärter Gegner dieser Technologie Zweifel am Timing dieses Ausstiegsszenarios anmelden. Intakte und noch mehrere Jahre relativ sicher (jedenfalls sicherer als viele AKWs in den Nachbarländern) betreibbare Kraftwerke stillzulegen und unverzüglich rückzubauen, könnte man gerade in der heutigen Energie(mangel)lage schon als energiepolitisches und wirtschaftliches Harakiri bezeichnen. Statt viele TWh Strom zu liefern, werden so gigantische Mengen grauer Energie und Milliardenwerte einfach vernichtet. Für einen Weiterbetrieb über einige Jahre hätte man allerdings bereits 2022 neue Brennelemente ordern müssen. Im Gegensatz zum dreieinhalbmonatigen Streckbetrieb mit zuletzt 4,5% Anteil an der Stromversorgung, könnten es im Volllastbetrieb weiterhin 8% sein, die nun von Gas, Kohle und Importen kompensiert werden müssen.

Ausstiege ohne Einsteig, aber mit „Brückentechnologien“

Dass alle Regierungen der vergangenen Jahre den Fehler gemacht haben, risikoinduziert den Ausstieg aus der Kernenergie und überlappend den klimaschutzorientierten Ausstieg aus der Kohle auszurufen, ohne für den – notwendigerweise vorausgehenden – adäquaten Einstieg in Erneuerbare Energien und Speicher zu sorgen, war verantwortungslos. Es hat uns nicht nur in die gefährliche Abhängigkeit von russischem Erdgas, sondern letztlich in eine über viele Jahre prekäre Energieversorgung gebracht.

Erdgas als „Brückentechnologie“ zu sehen, musste von Anfang an als faule Ausrede für den Erhalt fossiler Strukturen und das ehemals unschlagbar billige Erdgas herhalten. Die überstürzt geschlossenen, langfristigen und überteuerten Verträge mit neuen Gaslieferanten sowie eine Überversorgung mit eilig erstellten schwimmenden oder landbasierten LNG-Terminals machen die Situation nicht besser, auch nicht mit dem wider besseres Wissen stereotyp gezogenen Wasserstoff-„Joker“. Wer es jetzt noch nicht begriffen hat, dass dieser keine Primärenergie darstellt, als „grüner“ Wasserstoff aufwändig und mit geringem Wirkungsgrad durch Elektrolyse hergestellt werden muss und auf lange Sicht niemals in ausreichender Menge zur Verfügung steht, sollte in der Debatte nicht mehr ernstgenommen werden.

Wer ist hier der „Geisterfahrer“?


Zurück zu den AKWs. In unseren Nachbarländern und weltweit hat man einen anderen Blick auf die Kernkraft. Sogar finnische „Grüne“ können sich damit nicht nur arrangieren, sondern unterstützen diese Art „klimaneutraler“ Energieerzeugung. Man sieht im Umgang Deutschlands mit dieser Technologie einen energiepolitischen „Geisterfahrer“, der sich an der Quadratur des Kreises versucht. Nun gut, ein gewisser ideologischer Dogmatismus ist unverkennbar, zumindest was den willkürlichen und nicht etwa technologisch oder ökonomisch bedingten Zeitpunkt der Abschaltung angeht. Schließlich geht es um das zentrale Identifikationsthema der deutschen „Grünen“. Aber was heißt hier „Geisterfahrer“? Nur weil (fast) alle anderen einen anderen Weg gewählt haben?

Sind nicht fast alle Regierungen der Welt seit Jahrzehnten klimapolitische „Geisterfahrer“, weil sie gegen hinreichend bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel und den Folgen der Wachstumsdoktrin gehandelt haben? Und nun wurde ihnen wiederum von Lobbyisten eingeredet, nur „klimaneutrale“ AKWs könnten noch die Welt retten. Aber mal ganz abgesehen von den Risiken und Endlagerproblemen – zu welchem Preis?

Wie sehr man sich heute an der nuklearen Technologie verheben kann, zeigen die französischen Bestandskraftwerke und die aktuellen Projekte in Frankreich, Finnland und UK. In Frankreich fehlt zur Zeit ein Drittel der AKW-Leistung, weil zunahmend längere Abschaltungen für Wartungs- und Reparaturarbeiten anfallen. An einen weiteren Dürresommer mit ausgetrockneten Flüssen mag man noch gar nicht denken. Dann gehen ggf. weitere AKWs mangels Kühlwasser von Netz.

In UK bastelt man schon lange am AKW „hinkender Punkt“, das bereits 30 Mrd. € versenkt hat. Das neue AKW in Finnland ist da mit bisweilen 11 Mrd. € noch ganz bescheiden, obgleich nicht einmal 4 Mrd. € eingepreist waren. Von den exorbitanten Folgekosten, dem aufwändigen späteren Rückbau und der Endlagerung, welche die Erstellungskosten locker mehr als verdreifachen können, wollen wir hier gar nicht sprechen. Auch die Bauzeiten werden immer länger und unkalkulierbarer. Das finnische AKW sollte in vier Jahren betriebsbereits sein, nach inzwischen 18 Jahren ist es das immer noch nicht. Sollen wir für unsere Energieversorgung auf derart unkalkulierbar lange Vorlaufzeiten setzen? Dann können wir auch gleich auf die Kernfusion hoffen, die seit mehr als einem halben Jahrhundert angesagt, aber vermutlich kaum vor Ende dieses Jahrhunderts praxisreif sein wird.

Das AKW-Narrativ ist jenseits aller Mystik also als solches gut durchschaubar – sowohl hinsichtlich der Bauzeiten, des Rückbaus und der in den meisten Ländern (außer Finnland) noch völlig ungeklärten Endlagerung sowie der exorbitanten Kosten. Sie rechnen sich nur mithilfe staatlicher Subventionen oder überzogener Strompreisgarantien für Jahrzehnte. Was könnte man mit geschätzt 30 Mrd. € des „preiswerten“ finnischen 1,6-GW-AKW alternativ anstellen? Zum Beispiel 6.000 Windräder mit 30 GW Spitzenleistung bauen und diese mit 5 GWh Batteriespeicher vom Makel der flukturierenden Energiequelle befreien. Anschließend brauchen diese nur wenig Wartung, keine Brennstäbe oder andere Brennstoffe, keine Hochsicherheitstechnik (selbst Milane können gut mit ihnen überleben) und kein Endlager.

Man kann es also nicht oft genug wiederholen: AKWs sind nicht die Lösung einer klimakompatiblen Energieversorgung. Gleichwohl wird der Abschaltzeitpunkt für die drei verbliebenen Kraftwerke dadurch nicht weniger fragwürdig.

By the way: In Sachen schlechtes Timing kann die Ampel noch ein weiteres Highlight bieten. Wenn man schon auf die Restleistung der drei AKWs ab dem 15.4.2023 verzichtet, kann man zeitgleich auch noch die Energieeinsparverordnung aufheben und zur gewohnten nächtlichen Lichtverschmutzung, zu mehr als 19°C in Büros und Wohnungen sowie anderen Luxusgewohnheiten zurückkehren. Dafür steht dann jede Menge LNG zur Verfügung. Die Mangellage ist schließlich abgewendet, und der Klimawandel war offensichtlich nur temporär. Für die (viel zu geringen) Einsparungen – überwiegend „unverschuldet“ durch den milden Winter – klopfen wir uns alle auf die Schultern und wachen erst im nächsten Herbst wieder aus dem LNG-Schlaf auf.

Mit herzlichen Grüßen
Claus P. Baumeister