Von Irm Scheer-Pontenagel
Seit der Industrialisierung betreibt die Menschheit Raubbau an der Natur. Ohne Energie geht nichts. Der hemmungslose Einsatz fossiler Energien wurde weltweit vorangetrieben und das stößt nun an Grenzen. Der menschengemachte Klimawandel wird kaum noch bestritten. Die Energieproblemfrage fordert den Wechsel der Energiequelle: weg von den fossilen, hin zu den Erneuerbaren oder bleibenden Energien des Sonnensystems. Durch technische Entwicklungen sind wir heute in der Lage, diese zu nutzen. „Energiesystemwende“ heißt, Ablösen des atomar- fossilen Energiesystems durch die Nutzung aller von der Sonne gelieferten Energien. Das bedeutet allerdings auch, sich gegen die Macht der etablierten Energiewirtschaft durchzusetzen.
Steigen wir daher aus, aus dem System der „Pyromanie“!
Diese Weitsicht war Grundlage vieler Beiträge und Bücher von Hermann Scheer zu Energie- und Klimafragen. Sein Buch „Der energet(h)ische Imperativ“, herausgegeben kurz vor seinem Tod 2010, bezog sich im Titel auf Immanuel Kant – an dessen 300. Geburtstag wird in diesem Jahr erinnert. Kants Schriften und Denken haben Hermann Scheer geprägt. Seine politische Triebfeder als Politiker war seit seiner Wahl 1980 in den Deutschen Bundestag vielschichtig. Im Verteidigungsausschuss und als Vorsitzender des Unterausschusses „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ beschäftigte ihn neben der Grundfrage nach friedensstiftender weltweiter Abrüstung vordringlich der Zusammenhang von sogenannter „friedlicher“ und militärischer Nutzung der Atomkraft.
In seinem Buch „Die Befreiung von der Bombe” (1986) charakterisierte er diesen Zusammenhang als die Herrschaft des „Atom-Syndroms“ – eine Weitsicht von auch heute noch zutreffender Aktualität. Er bezeichnete die Befreiung von der Atombombe als den politischen Schlüssel auf dem Weg zu einer Konzentration der Staatenwelt – einschließlich der Atommächte – auf die politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Überlebensprobleme unserer Zeit. „Atomwaffen sind nicht allein Mittel der Abschreckung und einer möglichen Vernichtung allen Lebens. Sie sind unverträglich mit jeder stabilen Friedenspolitik, menschlichem Gemeinschaftssinn und jeder Zivilisationsmoral, unverträglich mit politischen Verfassungen, mit der Zukunft der Demokratie und mit loyalen Staatenbündnissen, unverträglich mit den wirtschaftlichen Anforderungen für unsere Daseinsbewältigung …“ (S. 7).
Es sei fraglich, ob die Atommächte noch selbst über diese Machtkomplexe regieren oder schon eher Knechte statt Herren ihres eigenen Atom-Syndrom seien. Sie erzeugten den Zustand der Ablenkung von den explosionsartig anwachsenden ökologischen und ökonomischen Problemen der Welt!
Der Begriff des „Gleichgewicht des Schreckens“ stammt aus der Zeit einer bipolaren Weltmachtstruktur und ist eng verbunden mit der „Abschreckungstheorie”. Diese ist noch heute so gut wie unumstritten und von daher ist es nur folgerichtig, wenn immer mehr Staaten nach Atomwaffen streben. Heute provoziert die Atombombe die konventionelle Rüstungsspirale, denn „Abschreckung und militärische Stärke“ werden weiterhin als wichtigste Säule der Konfliktlösungen angesehen und verhindern die zweite Säule zur Konfliktlösung, die „Friedensdiplomatie.“ Die Welt rüstet auf!
1970 trat der atomare Nichtverbreitungsvertrag in Kraft. Darin verzichten diejenigen Vertragsstaaten, die noch keine Atomwaffen haben, auf deren Herstellung und Erwerb. Gleichzeitig öffnet der Vertrag diesen Ländern die Möglichkeit zur Entwicklung und Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke. Da die zivile und militärische Atomtechnik nicht wirklich zu trennen sind, ist damit der „Geist aus der Flasche“. Vor dieser – vorhersehbaren – Entwicklung hat Hermann Scheer schon in den 1980er Jahren gewarnt: Die allgemeine und vollständige Atomwaffenabrüstung bleibe ein aktuelles weltpolitisches Gebot für eine stabile Friedenssicherung, wozu auch der Stopp der Verbreitung ziviler Atomtechnologien notwendig sei.
Deutschland ist ausgestiegen aus der Nutzung der Atomenergie. Nur diejenigen, die danach streben, auch Deutschland sollte Atommacht werden, scheinen das im Hinterkopf zu haben, wenn sie den Wiedereinstieg fordern.
Hermann Scheer war als Politiker Ideengeber und Vordenker in einer Zeit, als kaum jemand Forderungen zur Energiesystemwende an die Politik formulierte. Gleichzeitig entwarf er den praxistauglichen gesetzlichen Rahmen. Er sah sich dazu in einer Zeit verpflichtet, als Regierungen allein auf die angeblich maßgebliche Kompetenz der atomar-fossilen Energiewirtschaft setzten und dieser vertrauten.
„Wieder Hermann Scheer lesen” nannte sich eine Initiative nach dessen Tod. Anlässlich seines 80. Geburtstags rufen wir dazu erneut auf. Seine Analysen und seine Weitsicht sind unverzichtbar – sein politisches Denken ist noch heute relevant.
Hermann Scheers Stimme fehlt!
Am 29. April 2024 wäre Hermann Scheer 80 Jahre alt geworden.