Nachgerechnet – Sichere Versorgung mit Strom aus Erneuerbaren Energien

Von Ralf Bischof, erschienen im SOLARZEITALTER 2-2022

Aktuell wird die Möglichkeit einer sicheren Versorgung mit Strom aus Erneuerbaren Energien wieder in Frage gestellt. Tatsächlich sind aber alle notwendigen Schritte inzwischen erprobt und quantifiziert. Nichts spricht gegen die beschleunigte Umsetzung – ohne Umwege über neue Investitionen in sogenannte Brückentechnologien.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und der Krise der französischen Atomkraft werden wieder Stimmen lauter, die eine sichere Stromversorgung auf Basis Erneuerbarer Energien als unrealistisch darstellen. Es wird vor „Deindustrialisierung und Verarmung“ gewarnt.

Ein immer wieder genutztes Bild ist, dass hinter jeder Wind- oder Solaranlage eine Backup-Kraftwerk stehen müsse, um nachts und bei Flaute einzuspringen. Dieses Bild ist irreführend. Auch konventionelle Kraftwerke fallen aus und selbstverständlich gibt es nicht für jeden ihrer Blöcke ein Reservekraftwerk in gleicher Größe. Richtig formuliert lautet die Aufgabe: Die Nachfrage muss jederzeit mit dargebotsunabhängiger Kapazität gedeckt werden können.

In den vergangenen Jahren betrug die maximale Last in Deutschland rund 83 Gigawatt (GW) [Amprion, 50Hertz, TenneT, TransnetBW: Abschlussbericht Systemanalysen 2021]. Diese stündliche Spitze lässt sich bereits heute durch abschaltbare Lasten (1,5 GW) sowie Kurzfristspeicher wie Pumpspeicherkraftwerke (9,8 GW), dezentrale (2,0 GW) und zentrale (> 0,6 GW) Batterien deutlich abschleifen [Bundesnetzagentur/Bundeskartellamt: Monitoringbericht 2021; Figgener et al.: The development of battery storage systems in Germany – A market review (status 2022), Preprint, 2022].

Hier bestehen noch deutlich größere Möglichkeiten. Allein das Potenzial für Lastmanagement wird von den Übertragungsnetzbetreibern im aktuellen Szenariorahmen für den Netzausbau auf 5 bis 12 GW geschätzt. Ferner können Batterien von Elektrofahrzeugen als gesteuerte Lasten oder sogar bidirektional als Speicher genutzt werden. Bereits heute stehen dafür rund 8 GW zur Verfügung.

Für den geglätteten Bedarf stehen nicht nur Sonne und Wind, sondern auch Wasserkraft (3,2 GW) und Biomasse (10,4 GW) zur Verfügung. Aktuell werden jährlich rund 50 Terawattstunden (TWh) Strom aus verschiedenen Biomasseformen bereitgestellt. Langfristig wird man bei gleichem Aufkommen durch Reduzierung der Volllaststunden daraus mehr als 20 GW Kapazität bereitstellen können. Für die zahlreichen Biogasanlagen, die in den letzten Jahren mit Gasspeichern und zusätzlichen Motoren bereits flexibilisiert wurden, ist dies bereits kurzfristig möglich. Die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe schreibt, dass obwohl rund 2,2 GW Flexibilitätsprämie oder Flexibilitätszuschlag von ihrem jeweiligen Netzbetreiber erhalten, die meisten dieser Anlagen trotzdem nicht marktpreisorientiert betrieben werden [visuflex.fnr.de]. Hier muss die Politik kurzfristig nachsteuern.

Entscheidend ist ferner die geografische Lage Deutschlands: Es ist ein zentraler Bestandteil des europäischen Strommarkts [https://www.entsoe.eu/data/map/]. Lastspitzen, Dunkelflauten und Kraftwerksausfälle treten nicht in allen Ländern zeitgleich auf. Es bestehen Ausgleichseffekte, die 10% und mehr der Jahreshöchstlasten entsprechen [r2b energy consulting, Consentec, Fraunhofer ISI, TEP Energy: Monitoring der Angemessenheit der Ressourcen an den europäischen Strommärkten, 2021].

Ferner ist der gezielte Austausch von Strom aus Speicherwasserkraft zur Optimierung der inländischen Erzeugung seit über 90 Jahren Praxis. Bereits 1929 wurde die rund 600 km lange Nord-Süd-Leitung vom Rheinischen Revier bis Vorarlberg vollendet. Die rasante Entwicklung der Hochspannungsgleichstromübertragung macht neben den alpinen auch die skandinavischen Wasserkräfte zugänglich. Die Stauseen im nordischen Strommarkt können über 120 TWh Energie speichern. Das entspricht etwa zweieinhalb Monaten des deutschen Stromverbrauchs. Allein Norwegen könnte 11
bis 19 GW zusätzliche Leistung bereitstellen [https://www.cedren.no/english/Projects/HydroBalance/HydroBalance-pilotstudy]. Eine erste Direktleitung nach Norddeutschland mit 1,4 GW Kapazität wurde 2021 in Betrieb genommen. Neue Verbindungen nach Dänemark (2023), Schweden (2025) und Großbritannien (2026) sind in der Vorbereitung.

Die Ausgleichseffekte- und Synergieeffekte sind der Grund, warum der großräumige Netzausbau auch für die dezentralen Erneuerbaren Energien wichtig ist. Letztlich reduziert sich die noch zu deckende Leistung auf etwa die Hälfte der Jahreshöchstlast. Erst jetzt kommen neue Langfristspeicher („grüne Moleküle“) ins Spiel.

Eine wesentliche Herausforderung für die sichere Versorgung mit Strom aus EE ist dabei die Überbrückung „kalter Dunkelflauten“. Damit bezeichnet man längere Perioden mit sehr kalter Witterung bei vernachlässigbarem Wind- und Solarangebot. Schon 2017 ergab eine Studie für Greenpeace Energy bei der Analyse der Wetterjahre 2006 bis 2016, dass in jedem zweiten Jahr mindestens eine zweiwöchige Phase mit einer Dunkelflaute auftritt [Energy Brainpool: Kalte Dunkelflaute, 2019]. 

Der benötigte Umfang ist aber überschaubar. Eine aktuelle Studie ermittelte den Speicherbedarf für eine zu 100 % auf EE basierende Stromversorgung zu 56 TWh, davon 54,8 TWh in Form von Wasserstoff [Ruhnau, Oliver; Qvist, Staffan: Storage requirements in a 100% renewable electricity system: Extreme events and inter-annual variability, ZBW – Leibniz Information Centre for Economics, Kiel, Hamburg, 2021]. Zur Einordnung: Ende 2020 betrug das Arbeitsgasvolumen in den deutschen Untergrundspeichern für Erdgas rund 275 TWh. In Form von reinem Wasserstoff wären dort 30,7 TWh lagerbar [DBI Gas- und Umwelttechnik GmbH, ESK GmbH, Wagler DEEP.KBB GmbH Untergrundspeicher- und Geotechnologie-Systeme GmbH: Wasserstoff speichern – soviel ist sicher, 2002]. Weitere Kavernenspeicher können in reichlich vorhandenen Salzstöcken geschaffen werden. Wissenschaftler der RWTH Aachen und des Forschungszentrums Jülich haben gezeigt, dass Deutschland mit rund 35.700 TWh das größte Nutzungspotenzial in Europa besitzt. Die chemische Industrie beherrscht das sichere Handling von Wasserstoff und den Betrieb von regionalen Wasserstoff-Pipelines seit Jahrzehnten. Die existierende Erdgasinfrastruktur ist für die Umstellung auf Wasserstoff gut geeignet. Kritiker wenden ein, dass man schon vor Jahren mit der großtechnischen Nutzung von grünem Wasserstoff zur Langzeitspeicherung hätte beginnen müssen. Allerdings gab es bisher kaum Stromüberschüsse, die man dafür sinnvoll hätte verwenden können. Ein guter Indikator sind negative Preise am Spotmarkt. 2021 gab es sie nur in 139 Stunden bei einem mittleren Angebotsüberhang von 1.629 MW.  Das entspricht weniger als einem halben Promille des Stromverbrauchs. Es ist also vollkommen richtig, aktuell noch den Schwerpunkt auf den Zubau von Solar- und Windkraft zu legen, um überhaupt nennenswerte grüne Wasserstoffmengen im Inland herzustellen. Der Aufbau einer zukunftsfähigen Infrastruktur muss aber schon jetzt mitgedacht werden.