Zur Lage Deutschlands in der sich verschärfenden Weltordnung

Von Axel Berg, erschienen im SOLARZEITALTER 1-2023.

Das Weltwirtschaftsforum von Davos ist der mondäne Marktplatz für Geschäftsideen und das Großkapital; Optimismus gehört zum Geschäft. Doch sein Global Risk Report 2023 kündigt von einer düsteren Zukunft. Kulturen driften ideologisch auseinander, so heißt es, was Konflikte zwischen globalen Mächten anheizt und Kriegsrisiken erhöht; Wirtschaftskriege würden zur Norm.

Die nationalen Wirtschaftspolitiken würden stärker auf Selbstversorgung ausgerichtet und dazu benutzt, dem Aufstieg anderer entgegenzuwirken. Statt den Handel und die Zusammenarbeit zwischen den Nationen zu fördern, entstehe ein eskalierender Zyklus von Misstrauen und Entkopplung der Märkte. Je mehr die Geopolitik die Wirtschaft dominiere, umso ineffizienter werde die Produktion, was Ungleichheiten verschärfe. Klima- und Umweltrisiken seien zwar deutlich zu erkennen, die Welt darauf aber nur unzureichend vorbereitet. Der Mangel an Fortschritten bei den Klimazielen lege den Graben schmerzlich offen zwischen dem notwendigen Handeln und dem, was politisch machbar sei. Deshalb fordert der Report die Staats- und Regierungschefs zu kollektivem Handeln auf.

Vor neun der im Report benannten zehn größten globalen Risiken über die nächsten zehn Jahre, sage ich, hätte die Welt bei einer erneuerbaren Vollversorgung nichts zu befürchten oder allenfalls am Rande. Der Ukrainekrieg verändert die geopolitische Energie-Landkarte. Russland als zentraler Lieferant wird von Deutschland und seinen Mitstreitern boykottiert. Gas wird deshalb zunehmend aus Norwegen, Katar, den USA sowie Asien und Afrika nach Mitteleuropa importiert. Öl wird zunehmend aus den USA, den Vereinigten Emiraten und Saudi-Arabien kommen. Die Bedeutung der Türkei dürfte ebenfalls zunehmen; sie kann als Nicht-EU-Mitglied ihre Binnennachfrage mit russischem Öl befriedigen, während türkisches Öl nach Europa exportiert wird. Das atypische Kartell der OPEC, das weniger an einem teuren, sondern an einem erschwinglichen Ölpreis interessiert war, damit die Konsumenten nicht anfangen, sich mit Alternativen zu versorgen, kann einer lukrativen Zukunft entgegensehen.

Die Kollateralfolgen des Ukrainekriegs drehen die Geschichte um vier Jahrzehnte zurück. Europa entwickelte sich in den 1980er Jahren zu einem gewichtigen Erdgasverbraucher, weil es sein Öl-Klumpenrisiko im Nahen Osten verringern wollte. Wie damals dürften absehbar im Nahen Osten die Spannungen durch die wieder zunehmende Gier nach den europäischen Geldquellen ansteigen. Schlimmer noch, weil heute mehr und wirkungsvollere Waffen im Umlauf sind. Außerdem wächst der chinesische Einfluss in der Region. China, vor 40 Jahren noch Ölexporteur, hat gerade erst eine diplomatische Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien herbeigeführt, wohl auch um die Verteilungsdynamik zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Papst Franziskus brachte es mal wieder auf den Punkt: „Insgesamt scheint sich die Begeisterung für den Aufbau einer friedlichen und stabilen Gemeinschaft der Nationen in den Gemütern aufgelöst zu haben“. Es würden Einflusszonen abgesteckt, Unterschiede hervorgehoben, man urteile verschärft über andere, und Nationalismen brandeten wieder neu auf. Man habe den Eindruck, „dem traurigen Untergang des gemeinsamen Traums vom Frieden beizuwohnen, während die Einzelkämpfer des Krieges Raum gewinnen.“

Vollversorgung Erneuerbarer Energien beugt Krisen vor

Erst ein konsequenter Energiewechsel wird zu einer Verringerung des weltweiten Gas- und Ölverbrauchs führen und damit ein wesentliches Hindernis zum Frieden abräumen. Das wissen Eurosolarier, doch so denkt der sogenannte Westen bis heute nicht; Russland schon gar nicht. Die Folgen sind kaum einzuschätzen: Die Unterstützung der Ukraine soll den Sturz Moskaus bewirken, kann aber auch zum Zerfall des Westens führen.

Europäische Spitzenpolitiker und Meinungsmacher erwarteten in ihrer moralischen Selbstgerechtigkeit, dass ihnen die nicht-westliche Welt, mithin der globale Süden schon folgen werde. Was für ein Irrtum. Brasiliens Präsident da Silva bleibt bei seinem Nein; weitere Waffenlieferungen an die Ukraine würden nur zu einer Eskalation des Krieges führen und jede Aussicht auf Friedensverhandlungen verbauen.

Südafrika verfällt zunehmend und braucht das günstige russische Gas. Für viele ist die Ukraine weit weg. Dass Länder wie Brasilien, China oder Indien der Politik der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten nicht einfach folgen, hätte niemanden überraschen dürfen. Das heißt noch lange nicht, dass sie den russischen Einmarsch in die Ukraine befürworten. Die Stimme der weltweiten Staatengemeinschaft, die eine regelbasierte Ordnung respektiert, ist der Westen jedoch nicht. Auch wenn er so tut als ob. Für Deutschland bedeutet der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende – im Süden kommen eher deren Kollateralwirkungen an.

Afrikaner haben ein historisches Gedächtnis an die koloniale Ausbeutung durch den Westen, die bis heute anhält, wenn auch subtiler. Der Kolonialismus schuf künstliche Grenzen und Clans korrupter Privilegierter. Später musste der Kommunismus für den Westen abgewehrt werden, noch später geht es darum, Flüchtlinge an der Flucht nach Europa zu hindern. An die illegalen Bombardierungen von Belgrad, Bagdad und Tripolis durch NATO-Länder ist die Erinnerung noch frischer. Seit Jahrzehnten redet die eurozentrische Politik davon, mit vollem Einsatz Demokratie und Menschenrechte zu unterstützen. Realiter gibt Europa den lauen Versprechen und der trügerischen Stabilität von Autokraten den Vorzug vor dem Drängen von deren Bevölkerungen nach mehr Gerechtigkeit, Schulen, Ärzten, Infrastruktur.  Afrika blickt auf eine lange Geschichte fremder Einmischung zurück. Deutschland war oft auf der Seite der Unterdrücker und hat zu meiner Schulzeit in den 1970ern noch bestritten, je richtige Kolonien gehabt zu haben; der deutsche Völkermord an den Herero und Nama wurde im Lehrplan weggelassen. Deutsche Hersteller und ihre Lizenznehmer liefern seit den 1960er-Jahren Waffen an Militärregimes, mit denen dank deutscher Spitzenqualität auch heute noch Kriege wie der gegenwärtige in Sudan geführt werden.

Bis vor dem russischen Überfall auf die Ukraine waren deutsche Waffenlieferungen in Konfliktgebiete tabu – aus der sich jetzt wiederholenden Erfahrung heraus, dass mehr Waffen in der Regel einen Konflikt nicht schneller lösen, sondern ihn verlängern. Trotzdem gab es reichlich Ausnahmen des Exporte eigentlich streng beschränkenden Kriegswaffenkontrollgesetzes. Was mit den deutschen Waffen für die Ukraine geschehen wird, wenn der Krieg vorbei ist, ist eine Frage, die sich die Bundesregierung bisher nicht stellt. Vielleicht, weil der Zweiteinsatz der Waffensysteme ohnehin nicht zu kontrollieren und eher im globalen Süden als in Europa zu erwarten ist.

Der Krieg, so Außenministerin Baerbock, soll weitergehen, bis die Ukraine gesiegt hat. Unterstützung as long as it takes verspricht auch Verteidigungsminister Pistorius. Europa behauptet steif und fest, dass Russland sich selbst isoliere – aus der Perspektive des globalen Südens ist dem nicht so. Dort wirken eurozentrische Länder wie Deutschland inzwischen unterdurchschnittlich souverän, schon weil ihr langjähriger Trumpf, glaubwürdiger Vermittler in Konflikten zu sein, perdu ist. Die Vormachtstellung der USA wird infrage gestellt.

Neue Gasquellen für Europa

Die unmoralischen Rekordprofite der westlichen Ölkonzerne und Rüstungsschmieden sind von keiner Übergewinnabgabe bedroht. Deutschland kauft Gasmärkte in Ländern wie Pakistan leer, die keine Alternative haben und nun in volkswirtschaftliche Abgründe schauen. Und noch ein U-Turn: nachdem der Westen jahrelang erklärt hat, seine fossilen Importe runter- und dafür die heimischen Erneuerbaren hochzufahren, weil das Klima geschützt werden müsse, drängen europäische Staatschefs inzwischen darauf, neue Gasquellen für den Export nach Europa zu er-
schließen.

Deutschland vereinbart langjährige Lieferverträge mit Katar und den USA und in vielen Ländern wird dafür geworben, neue Gasfelder zu erschließen; ganz konkret in Senegal, Ghana, Cote d´Ivoire, Angola, Namibia, Mosambik und Gabun. Inzwischen setzt Deutschland auf eine feministische Außenpolitik – während weder zehn Sanktionspakete noch immer mehr Waffen den Ukrainekrieg bisher schneller beendet und Russland wie beabsichtigt in die Knie gezwungen hätten. Deshalb kaufen viele billiges russisches Öl.

Eine persönliche Erinnerung mag verbildlichen, was ich meine: im November 2022 war ich in Südafrika und sah mir die wichtigen Spiele und die der deutschen Nationalmannschaft der Fußball-WM in Katar zusammen mit Einheimischen im Public Viewing an. Die Medien berichteten, dass die Hälfte der deutschen Fernsehzuschauer die WM boykottiere, weil Katar Homosexuelle kriminalisiere. Die arabischen Homo-Diskriminierungen wurden in Kapstadt, einer sehr schwulenfreundlichen Stadt, zwar wahrgenommen. Aber dass die Deutschen trotz ihrer scharfen Kritik der WM kein Problem damit haben, Panzer und modernste Waffensysteme an das Emirat zu verkaufen, das sei halt auch nur double standard (Doppelmoral).

Szenenwechsel

850 Milliarden Euro hat der Bundestag seit Frühjahr 2020 an neuen Krediten genehmigt. Das entspricht jener Summe an Verbindlichkeiten, die die Bundesrepublik in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens aufgehäuft hatte. Anders gesagt: der Kampf gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Corona-Pandemie und Energiekrise hat genauso hohe Staatsschulden verursacht wie alle wirtschaftlichen Tiefschläge und vergangene Zeitenwenden zusammengenommen – Ölkrisen, den Scheckheftkanzler Kohl und die teure deutsche Einheit inklusive. Da wundert es nicht, dass der Bundesrechnungshof eindringlich vor einem vollständigen haushaltspolitischen Kontrollverlust warnt.

Deutschland mosert über die vorgeblich grüne Vetternwirtschaft zwischen der Bundesregierung und deren Beratungsinstituten für Energie- und Klimapolitik. Keiner der Vettern hat je gefordert, was notwendig wäre, um die gesetzlichen Klimaziele zu erreichen.

Deutsche Energieagentur, Ökoinstitut und die Agora Energiewende haben nicht zum notwendigen Handeln aufgerufen, sondern sich mit dem politisch Machbaren zufriedengegeben. Sie distanzierten sich sogar von heftiger pochenden Forschern der Scientists for Future oder der Energy Watch Group. Die erneuerbare energetische Vollversorgung bis 2030 oder den Wiederaufbau deutscher Energiewende-Industrien haben sie nicht propagiert. Im Gegenteil unterstützten die Vettern sogar indirekt klimaschädliche Emissionen, insbesondere mit ihrer Unterstützung der Ausschreibungspflicht für erneuerbare Anlagen, ihrer Forderung nach neuen Erdgaskraftwerken und LNG-Beschleunigungsverfahren, nach schmutzigem Wasserstoff oder CCS. So grün wie die rein gewinn- und nicht umweltorientierten globalen Investoren aus Davos sind die deutschen Regierungsberater nicht.

Fazit

Wenn Deutschland unabhängiger werden will, sollte man schnell Bürokratieabbau für den Erneuerbare Energien-Anlagenbau anpacken, Energy-Sharing, Lastenverteilung, eine Kombi-Kraftwerksvergütung, Förderung von Regionalstrom mit lokalen Speichern und Innendämmungen angehen und auch das Tempolimit, jedenfalls für Verbrenner. Und den teuren Ausbau des Übertragungsnetzes muss man stoppen, der vor allem die überteuerten zentralen Energieformen und die Netzbetreiber selbst im Geschäft halten soll. Gefährlich für die dezentrale Energiewende ist auch der Smart-Meter-Rollout, der die zunehmende Eigenversorgung mit Erneuerbaren Energien aufhalten und dafür sorgen soll, dass sämtlicher erzeugter Strom ins Netz eingespeist und sämtlicher verbrauchter Strom aus dem Netz bezogen werden soll.

Es ist weder schwierig noch teuer, den Hebel auf erneuerbare Selbstversorgung oder eine nachhaltige Mobilitätswende umzulegen. Der Ausbau der Erneuerbaren kann entfesselt werden. Nur getan muss es werden. Ohne die Erneuerbaren bleibt uns in Europa kaum anderes übrig, als Kohle, Öl, Gas und Uran aus Russland oder anderen Staaten zu kaufen. Erleben wir noch die Regierung, die den fossilen Loop unterbricht?