Mehr Platz im Netz schaffen und Alternativen ermöglichen

von Ralf Bischof, erschienen im SOLARZEITALTER 2-2023/1-2024

Über sieben Prozent der Erzeugung aus Wind- und Solaranlagen in Deutschland wird inzwischen netz- oder marktbedingt abgeregelt. Die Nutzung dieser Überschüsse im Wärmemarkt wird durch ein starres System von Netzentgelten und Abgaben verhindert. Würden diese intelligent und dynamisch gestaltet, könnte die Entlastung von Netzen und Strommarkt mit der Bereitstellung von günstiger Wärme aus Erneuerbaren Energien verbunden werden. Daneben müssen Alternativen zum öffentlichen Netz wie Direktleitungen ermöglicht werden. Wie seinerseits die Öffnung des oligopolisierten Kraftwerksektors durch die Einspeisegesetze würden damit neue Akteure und Innovationen mobilisiert werden.

Nach Zahlen der deutschen Übertragungsnetzbetreiber und der Bundesnetzagentur wurden 2023 rund 14,5 Milliarden Kilowattstunden (kWh) Strom aus Solar- und Windkraftanlagen abgeregelt. Das entspricht mehr als sieben Prozent der Erzeugung aus diesen Anlagen. Die Gründe dafür sind Netzengpässe und zeitweises Überangebot am Strommarkt. Gegenüber dem Vorjahr ist ein Anstieg der verlorenen Mengen von über 18 Prozent zu verzeichnen ‑ obwohl die Erzeugung nur um gut neun Prozent angestiegen ist. In 2022 waren es bereits 12,2 Mrd. kWh, wobei über 65 Prozent (8,0 Mrd. kWh) im Rahmen des sogenannten Redispatch 2.0 (früher: Einspeisemanagement) abgeregelt wurden. Der geringere Teil wurde durch die Vermarkter aufgrund negativer Spotpreise abgeschaltet.

Sowohl netzbedingter als auch marktbedingter Überschussstrom ließe sich leicht vermeiden. Nach Angaben der Bundesnetzagentur wurden 2021 rund 73 Prozent der Ausfallarbeit durch Engpässe im Übertragungsnetz verursacht. Im aufnehmenden Verteilnetz hätte der Strom also noch zu einem Kunden transportiert werden können. Selbst in überlasteten Verteilnetzen ließe sich in der Nähe der Erzeugungsanlagen fast immer ein Verbraucher finden, der den Strom sinnvoll nutzen kann, solange er nicht auf höhere Netzebenen transportiert werden kann.

Auch negative Preise im kurzfristigen Stromhandel sind kein Grund, Anlagen zu drosseln. Es wäre sehr einfach in diesen Zeiten fossile Energieträge für die Wärmeerzeugung durch Strom zu ersetzen. Hätte man die verloren gegangenen Wind- und Solarmengen von über 12 Mrd. kWh im Jahr 2022 zur Erzeugung von Wärme im Umkreis der Erzeugungsanlagen genutzt, wäre Erdgas im Wert von 1,5 Mrd. Euro ersetzt worden.

Warum findet diese als „Nutzen statt Abschalten“ bekannte Verwendung dennoch kaum statt? Hauptgrund sind ein gesetzlich verankertes System der Netzentgelte, das angesichts eines Anteiles der Erneuerbaren Energien (EE) von über 50 Prozent am Strombedarf nur noch als dysfunktional bezeichnet werden kann. Verstärkend wirken Abgaben und Umlagen, die oft direkt an die Netzentgelte gekoppelt sind.

Neben der reinen Finanzierungsfunktion sollten die Netzentgelte die richtigen Preissignale liefern, damit die Nutzung durch die Netzkunden entsprechend den Knappheiten erfolgt. Wird das Netz bei hoher EE-Einspeisung stark beansprucht sollte der Verbrauch in dieser Region preislich angereizt werden. Umgekehrt: Besteht eine hohe Nachfrage von Verbrauchern, sollte die Netznutzung teurer werden. Die Netzsituation ändert sich von Stunde zu Stunde und hängt nicht starr von den jährlichen Benutzungsstunden – dem Verhältnis von bezogener Energie (Kilowattstunden) zu maximal beanspruchter Leistung (Kilowatt) – ab. Die Benutzungsstunden sind nach der geltenden Stromnetzentgeltverordnung aber das entscheidende Kriterium für die Höhe des durchschnittlichen Netzentgelts eines Verbrauchers. Seit der Liberalisierung der Stromwirtschaft Ende der 90er Jahre ist daran nichts Grundlegendes geändert worden. Der Reformstau ist enorm. Anpassungen gab es nur in homöopathischen Mengen und befristet (etwa für Speicher). Mit einer Ausnahme: Stromintensive Betriebe, die ihre Benutzungszeit auf mehr als 7.000 Stunden steigern können, werden mit Netzentgeltnachlässen von bis zu 80 Prozent belohnt. Das ist genau das Gegenteil der notwendigen Flexibilität!

Absurd: abgeregelter Strom verhindert Gewinne und Entlastungen!

Besonders extrem sind die Auswirkungen der Netzentgeltsystematik für die oben beschriebenen Überschüsse. Diese fallen nur in wenigen hundert Stunden des Jahres an. Negative Preise am Spotmarkt traten im Jahr 2023 zum Beispiel nur in 301 Stunden auf. 2020 waren es 298 Stunden.

Werden Netze rechnerisch für weniger als 2.500 Stunden im Jahr für die Durchleitung genutzt, so müssen sehr hohe Arbeitspreise pro kWh in Rechnung gestellt werden. Um einen Gewerbekunden in der Mittelspannung zu versorgen sind bei den meisten Netzbetreibern sechs Cent pro kWh (ct/kWh) und mehr zu bezahlen. Allein dies übertrifft die Großhandelspreise für Erdgas deutlich: Anfang 2024 wurden die Terminpreise für Bandlieferungen in den nächsten Jahren für rund 3 ct/kWh gehandelt, Tendenz fallend. Selbst in Stunden mit einem Überschuss an EE-Strom und einem anlegbaren Preis des Stromes von null kann damit kein kostendeckendes Geschäftsmodell realisiert werden.

Besonders absurd ist die Tatsache, dass der abgeregelte Strom im Ergebnis zu keinem Kunden fließt und der Netzbetreiber damit überhaupt keine Erlöse erwirtschaftet. Würde – und dürfte – er wie ein freier Kaufmann handeln, würde er den Preis in diesen Situationen deutlich senken. Lieber einen geringen Erlös als gar keinen Erlös.

Eine einfache regulatorische Lösung wäre den Arbeitspreis bei einem durch vorgelagerte Netzbereiche ausgelösten Redispatch auf einen geringen Wert von etwa einem ct/kWh zu deckeln, um die Nutzung des sonst abgeregelten Stroms vor dem Netzengpass anzureizen. Ergänzend könnte der Leistungspreis zeitanteilig reduziert werden bzw. eine entsprechende Gutschrift erfolgen. Alle Verbraucher würden dadurch deutlich entlastet: Zum einen entfielen Kompensationszahlungen für den Redispatch an die EE-Anlagen. Zum anderen könnte der Netzbetreiber für den zusätzlich durchgeleiteten Strom Netzentgelte erlösen, die die spezifischen Preise senken.

In diesem Zusammenhang darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass viele Netzengpässe bereits durch Netzoptimierungen vermeidbar wären. Der Bericht der Bundesnetzagentur zum Zustand und Ausbau der Verteilernetze 2022
zeigt, dass technische Maßnahmen wie Freileitungsmonitoring, regelbare Ortsnetztransformatoren oder ein Spannungs- und Blindleistungsmanagement von der überwiegenden Anzahl der Netzbetreiber nicht ergriffen werden – obwohl sie in der Regel günstiger und schneller nutzbar sind als der Netzausbau. Unerwähnt bleibt in dem Bericht die wohl wirksamste Maßnahme, das sogenannte kurative Netzmanagement. Beim Redispatch wird niemals eine wirkliche Netzüberlastung, sondern immer eine fiktive Überlastung im sog. n-1-Fall zu Grunde gelegt.

Die Netze werden tatsächlich nie mehr als zu 50 bis 70 Prozent ausgelastet – darüber hinaus wird präventiv abgeregelt. Alternativ kann zumindest bei Wind- und Solarparks ein kuratives (oder reaktives) Netzsicherheitsmanagement erfolgen. D. h. die Erzeugungsanlagen werden erst dann abgeregelt, wenn tatsächlich eine unmittelbare Überlastung droht (viel Wind/Sonne und Ausfall eines Betriebsmittels).

Dafür stehen aufgrund der thermischen Trägheiten in Leitungen und Transformatoren einige Minuten zur Verfügung. Für Wind- und Solaranlage ist die vollständige Abschaltung in weniger als einer Minute technisch kein Problem. Eine gezielte Umsetzung an wenigen großen Umspannwerken, die überwiegend der Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien dienen, könnte kurzfristig die verlorenen Mengen merklich reduzieren.


Günstige grüne Wärme mit dynamischen Netzentgelten

Die oben skizzierte Dysfunktionalität trifft nicht nur auf Netzengpässe und negative Marktpreise zu, sondern auch auf Perioden mit schwachen Stromstrompreisen. Ganz generell gilt: Ist eine kWh grüner Strom im Großhandel günstiger als eine kWh Erdgas oder Erdöl sollten diese Brennstoffe durch Strom ersetzt werde. Offenbar kann er einen höheren Nutzen stiften. Die Sektorenkopplung senkt Emissionen und Kosten. Zudem wirkt dies stabilisierend auf die Marktwerte und Einnahmen der EE-Erzeuger. Dadurch sinken auch die vom Steuerzahler getragene Kosten des EEG.

Da Wind und Sonne schwankend anfallen, braucht es dynamische, vor allem netzlastvariable Netzentgelte. Wenn man die Netzentgelte mit kurzfristigen Vorhersagen der Netzbelastung verbindet, kann man die Preisgestaltung auch zeitvariabel gestalten: Am Vortag werden vom Netzbetreiber die Preise für jede Viertelstunde veröffentlicht. Stromlieferanten und Anlagenbetreiber können diese Daten elektronisch einlesen und eine optimale Fahrweise und Handelsstrategie bestimmen. Überschüsse würden automatisch abgebaut, nur in Ausnahmefällen müsste der Netzbetreiber noch steuernd eingreifen.

Da die Netzsituation ebenfalls räumlich variiert, würden dynamische Netzentgelte implizit auch zu örtlich variablen Preisen führen. Dabei sollten die unterschiedlichen Grenzkosten eines vermiedenen Netzausbaus in einem Bereich eingehen. Im Extremfall könnten Netzbetreiber sogar negative Preise anbieten, sofern dadurch Investitionen in einen durch starke EE-Erzeugung überlasteter Netzbereich vermieden werden. Die lokale Nutzung von Einspeisespitzen ist schlicht günstiger als der Abtransport in wenigen Stunden. Diese intelligente Spitzenkappung ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll, es fehlt aber bisher an einem Steuerungsinstrument für den Netzbetreiber. Mit dynamischen Netzentgelten könnte er Verbrauch zu den richtigen Zeiten anreizen. Dies würde auch dazu beitragen, dass Regionen mit einem hohen EE-Strom-Anteil profitieren und nicht mit eigenen Netzentgelten den Transport in andere Regionen bezahlen müssen.

Die Notwendigkeit zeitlich und örtlich flexibler Netzentgelte ist keine neue Erkenntnis, wurde bisher aber nicht umgesetzt. Wie ausgeführt ist es den Netzbetreibern verboten, von der regulierten Systematik abzuweichen. Es ist unverständlich, warum sie neben den regulierten starren Entgelten nicht auf freiwilliger Basis auch flexible Entgelte anbieten sollten. Natürlich würden diese nur Kunden nutzen, für die das flexible Modell Vorteile bietet. Dies ist jedoch kein Rosinenpicken zu Lasten der anderen Netzkunden. Sofern die Anreizhöhe richtig tariert ist, wird genau dadurch zukünftiger Netzausbau vermieden und das vorhandene Netz besser ausgelastet. Ferner werden neue Stromanwendungen in der Sektorenkopplung angereizt, die zusätzlichen Erlöse für den Netzbetreiber nach sich ziehen. In allen Fällen profitiert auch die Gemeinschaft aller Netzkunden.
Einen ersten Schritt in Richtung flexible Entgelte geht die Bundesnetzagentur mit der novellierten Umsetzung des § 14a Energiewirtschaftsgesetz zur netzorientierten Steuerung von Verbrauchseinrichtungen. Die Behörde springt jedoch deutlich zu kurz. Zum einen wird nur die Niederspannung adressiert. Gerade bei Kunden im Mittelspannungsbereich (Gewerbe, Krankenhäuser, Bäder, etc.) ließen sich sehr schnell hohe Flexibilitätspotenziale erschließen und zugleich liegt mit den dort schon lange etablierten „intelligenten“ Zählern (registrierende Lastgangmessung) eine wichtige technische Voraussetzung bereits vor. Zum anderen ist die Begrenzung auf bestimmte Verbrauchertypen wie Ladepunkte für Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Batterien unangebracht. So könnten nicht erfasste direktelektrische Wärmeanwendungen wie Heizstäbe und Elektrokessel als „fuel saver“ auch in konventionellen Heizungen den oben beschrieben Überschussstrom sinnvoll nutzen. Die Investition in Wärmepumpen oder elektrische Speicher ist für wenige 100 Benutzungsstunden im Jahr nicht wirtschaftlich. Es steht also zu befürchten, dass zwar die Elektrifizierung von Verkehr und Wärmemarkt erleichtert wird, aber kein nennenswerter Beitrag zu „Nutzen statt Abschalten“ geleistet wird.

Direktlieferungen ohne Netznutzung

Ein kurzfristiger Ausweg aus dem Dilemma der dysfunktionalen Netzentgelte ist die Direktlieferung von Strom ohne Netznutzung. Auch langfristig ist die Nutzung der ohnehin notwendigen elektrischen Anbindungsinfrastruktur von EE-Anlagen für die Versorgung benachbarter Verbraucher gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Dadurch wird das öffentliche Netz sowohl am Einspeisepunkt als auch am Ort des Verbrauchs entlastet und kann von anderen Netzkunden genutzt werden.

Beispielrechnungen zeigen, dass bis zu zwei Drittel des Bedarfs eines Industriebetriebes durch direkt gelieferten Windstrom gedeckt werden könnten [siehe https://www.lee-nrw.de/data/documents/2023/12/06/572-65705d9393092.pdf]. Bei gezieltem Einsatz von Strom in windstarken Zeiten für Power-to-X-Anwendungen und Speichern lassen sich noch höhere Anteile erreichen.

Die Lieferung von Strom an Dritte außerhalb der unmittelbaren räumlichen Nähe ist ohne Nutzung eines Netzes, das immer zwingend der Netzentgeltregulierung unterliegt, nur auf zwei Wegen möglich: Innerhalb sogenannter Kundenanlagen (früher auch Arealnetze genannt) oder über Direktleitungen. Kundenanlagen sind allerdings räumlich begrenzt und kommen daher für die größeren Entfernungen von Wind- oder Solarparks zu potenziellen Verbrauchern kaum in Frage. Und Direktleitungen werden bisher von deutschen Behörden und Gerichten äußerst restriktiv definiert. Weder sollen mehrere EE-Anlagen einspeisen noch mehrere Kunden angeschlossen werden dürfen. Zudem wird die Weitergabe vom Strom aus dem Netz – als Ergänzung zum direkt aus der EE-Anlage bezogenen Strom – als problematisch gesehen. Eine wirtschaftliche Vollversorgung mit hoher Verfügbarkeit lässt sich so nicht darstellen.

Neue Akteure und Innovationen ermöglichen!

Stromeinspeisungsgesetz und EEG wurden seinerzeit verabschiedet, obwohl viele EE-Anlagen technisch noch nicht ausgereift und verhältnismäßig teuer waren. Man wollte ausdrücklich neuen Akteuren – jenseits der etablierten Kraftwerksbetreiber – die Anwendung und Verbesserung dieser Technologien ermöglichen. Denn nur sie hatten eine wirkliche Motivation.

Diese Philosophie der Ermöglichung brauchen wir nun auch im Bereich der elektrischen Infrastruktur. Wer erneuerbaren Strom produziert sollte ihn auch zum Kunden bringen können. Handel und Vertrieb sind die eine, aber es bedarf auch der physischen Lieferung auf der anderen Seite. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum nur die Betreiber von Netzen der Allgemeinen Versorgung dafür ein Mandat beanspruchen dürfen. Direktlieferungen sollten gesetzgeberisch deutlich erleichtert werden.

Eine nähere Betrachtung zeigt, dass die oft vorgebrachten Argumente gegen Direktleitungen von „Rosinenpicken“ über „Wildwuchs“ bis „das Netz ist ein natürliches Monopol“ nicht weit führen. Es zeugt von Phantasielosigkeit und Besitzstandswahrung. Wenn heute im Untergrund der Städte und Dörfer nicht nur Stromkabel des Netzbetreibers, sondern neben Anschlusskabeln der dezentralen Erzeuger und Verbraucher, auch Trinkwasser- und Abwasserleitungen, Fernwärmerohre, Gasleitungen, Kupfer- und Glasfaserkabel für die Kommunikation verlaufen, warum soll dann eine zusätzliche Direktleitung von Erzeugern zu Verbrauchern ein abstraktes „Monopol“ gefährden oder zu „Wildwuchs“ führen? Und eine für Anbieter und Kunden aufgrund räumlicher Nähe günstige Versorgungslösung ist kein „Rosinenpicken“, sondern eine gesamtwirtschaftlich sinnvolle Lösung in einem wettbewerblichen Markt. Wer wollte es etwa einem Ladengeschäft versagen, sich dort niederzulassen, wo es die meisten Kunden vermutet – auch wenn das nahegelegene Kaufhaus eine minimale Umsatzeinbuße verzeichnet?

Nach allen Erfahrungen in der Produktion und Anwendung von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien dürfen wir auch bei der physischen Lieferung durch neue Akteure viele wirtschaftliche und technische Innovationen erwarten. Diese würden sicher auch von den etablierten Netzbetreibern übernommen, sofern es Ihnen eine moderne Regulierung erlaubt. Gewinner wären alle Verbraucher.