Plädoyer für ein 1,0-Grad-Ziel und eine neue Klimapolitik

Von Christoph Gerhards und Christian Breyer, erschienen im SOLARZEITALTER 2-2023/1-2024

In Paris wurde 2015 beschlossen, die Erderwärmung unter 2 Grad zu halten und Anstrengungen zu unternehmen unter 1,5 Grad zu bleiben. Daraus wurden nationale Klimaziele abgeleitet. Mit diesen Zielen gibt es zwei Probleme: Sie sind nicht ambitioniert genug und werden nicht mit hinreichenden Maßnahmen hinterlegt.

Betrachtet man die CO2-Budgetberechnung ab 2020 mit hohem Anspruch an Sicherheit, so ergibt sich für 83% Wahrscheinlichkeit und 1,5 Grad ein Budget von 300 Gt CO2 bei einer Unsicherheit von 220 Gt CO2, also ein verbleibendes Budget von 80 Gt CO2. Bei jährlichen Emissionen von ca. 40 Gt CO2. ist dieses Budget 2022 aufgebraucht gewesen. Selbst bei einer globalen Mitteltemperatur von 1,5 Grad über der vorindustriellen Zeit drohen insbesondere extreme Wetterverhältnisse wie Stürme und Dürren mit
katastrophalen Folgen für betroffene Regionen, der Verlust wertvoller Ökosysteme wie Korallenriffe, ein Meeresspiegelanstieg, der in den kommenden Jahrzehnten schon niedergelegene Küstengebiete und Inseln
unbewohnbar macht und langfristig durch das Abschmelzen der Eismassen auf Grönland und der Westantarktis bis zu 10 m betragen kann sowie, die weitere Verbreitung von tropischen Krankheiten neben,weiteren existentiellen Herausforderungen.

Die planetare Grenze für den CO2-Gehalt liegt bei ca. 350 ppm und wurde Ende der 1980er Jahre überschritten. Das 1,5-Grad-Ziel war ein politischer Kompromiss, der angesichts der verheerenden Folgen überdacht werden muss. Grund für diesen Kompromiss war, dass sich die Weltgemeinschaft viel zu spät einigen konnte und viel zu wenig fundierten Kenntnisse zur CO2-Entnahme bekannt waren, insbesondere
welche Möglichkeiten mit extrem niedrigen Stromgestehungskosten mit Erneuerbaren Energien bestehen.

Wir brauchen eine neue Phase der Klimapolitik. In fast allen Szenarien zur Erreichung von 1,5 Grad zum Ende des Jahrhunderts wird heute schon mit einer CO2-Entnahme gerechnet. Die dafür nötige Menge hängt von der Sicherheit ab, mit der das Ziel erreicht werden soll und der Geschwindigkeit, mit der Emissionen sinken können. Bei hoher Sicherheit und schneller Reduktion der Emissionen sind es ca. 500 Gt CO2 bis 2100,
welche selbst bei sehr ambitionierten Maßnahmen nicht mehr vermieden werden können, um ein Energie-Industrie-System mit Nullemissionen zu erreichen. Um die planetare Grenze von 350 ppm, was in etwa 1,0 Grad entspricht, im Jahr 2100 zu erreichen sind ca. 1750 Gt CO2 Entnahme erforderlich. Um diese große Menge an CO2 zu entfernen, wird die nach einem Ramp-up bis zu 40 Gt pro Jahr Entnahme erforderlich sein, also in etwa so viel wie wir heute emittieren. Das zeigt auch, dass die Aktivitäten, um dies zu bewältigen in etwa die Größe der heutigen fossilen Industrie haben wird. Dieses Geschäftsfeld ist nicht schnell
aufzubauen, sondern braucht etliche Jahre zum Hochlauf, wie wir es z.B. in der PV-Industrie gesehen haben und jetzt auch bei Batterien und Elektrolyseuren beobachten können. Wenn wir in den 2050er Jahren im Gt
Bereich ankommen wollen, müssen wir jetzt anfangen. Demnach muss die neue Klimapolitik zwei Kernbereiche haben, die gleichzeitig mit separaten Zielen angegangen werden müssen: Die Reduktion der Treibhausgasemissionen auf Nullemissionen im Energiesystem und die Reduzierung des CO2-Gehaltes in der Atmosphäre. Dies ist vergleichbar mit der Reinigung der verdreckten Flüsse und der Bekämpfung der Luftverschmutzung, nur ist es dieses Mal CO2 und wir können nur in einem weltweiten Bemühen erfolgreich sein, da sich CO2 global ausgleicht und nicht regional begrenzt wie Gewässer und klassische Luftverschmutzung. Dazu kommt aber noch, dass die Klimakrise nicht die einzige
substanzielle Krise unserer Zeit ist, sondern insbesondere auch der Verlust der Biodiversität unsere Lebensgrundlage massiv bedroht. Beide Krisen haben Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben und nur, wenn wir sie rechtzeitig und ambitioniert bekämpfen, kann die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben erreicht werden. Schon vor etlichen Jahren hat Hermann Scheer dargelegt, dass wir Kriege um Öl durch Solarenergie verhindern können. Heute können wir es ergänzen, dass wir Kriege aufgrund von durch die Erderhitzung zerstörter Lebensgrundlagen nur durch Klimaschutz verhindern können, jenseits der bislang diskutierten Grenzen.

Reduzierung des CO2-Gehaltes der Atmosphäre, wie kann es gehen?

Intuitiv denken viele zunächst an Photosynthese oder CO2-Abscheidung (engl. Carbon Capture and Storage – CCS). Im Kern geht es um zwei wesentliche Aspekte, die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre und die
dauerhafte Deponierung. Mittels Photosynthese wandeln Pflanzen CO2 in Biomasse und Sauerstoff um, allerdings wird der überwiegende Anteil der Biomasse im Rahmen des Kohlenstoffkreislaufes durch Lebewesen, Bakterien und Pilze schließlich wieder in CO2 umgewandelt. Eine Deponierung dauert
Jahrtausende, so sind fossile Rohstoffe entstanden und der CO2-Gehalt in der Atmosphäre sank über viele Millionen Jahre auf das vorindustrielle Niveau von etwas unter 280 ppm. Diese Zeit haben wir jetzt nicht. Wenn wir über Photosynthese der Atmosphäre CO2 entziehen wollen, müssen wir berücksichtigen, dass der Prozess der Entnahme lange dauert und die Deponierung nicht dauerhaft sicher ist. Das Risiko z.B. von Austrocknung von Mooren, Degenerierung von humushaltigem Böden oder Waldbränden muss
berücksichtig werden, wie wir es in diesem Jahr beim Waldbrand in Kanada sehen mussten. Dies gilt insbesondere bei Berücksichtigung der zunehmenden Extremwetterereignisse mit denen wir in den nächsten
Jahrzehnten rechnen müssen.
Der schon erwähnte Begriff CCS steht für Carbon Capture and Storage und wurde geprägt, durch die fossile Industrie, die das Narrativ bedient, man müsse nicht die fossile Energienutzung, sondern nur die fossilen Emissionen reduzieren, indem das freiwerdende CO2 am Schornstein eingefangen und eingespeichert werden kann. Bei der Speicherung (Storage) handelt es sich um ein Endlager, also um eine dauerhafte Deponierung von ‚CO2-Müll‘ über Jahrtausende. Für fossil CCS, ist die Lage eindeutig, das Verfahren ist teuer und die Alternative ist durch die Nutzung von Erneuerbaren Energien gegeben, wir brauchen es nicht. Dies gilt insbesondere auch für blauen Wasserstoff, der wegen der Vorkettenemission nie klimaneutral hergestellt werden kann.

Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten kommen zum Ergebnis, dass 100 % Erneuerbare Energien sowohl technisch möglich und auch ökonomisch attraktiv sind. Eine ambitionierte Klimapolitik muss daher immer ein
100 % Erneuerbare Energien Ziel beinhalten. Die Schritte sind wissenschaftlich gut verstanden, viele davon gesellschaftlich umfassend diskutiert und auch in der Umsetzung. Die wesentlichen Schritte sind 100% erneuerbare Elektrizität, damit einhergehend eine Wärmewende und eine Verkehrswende mit einem elektrifizierten Straßenverkehr und eFuels in der Schiff- und Luftfahrt, sowie nachhaltige und 100% erneuerbare Energienlösungen in der Industrie inklusive der Chemieindustrie. Parallel hierzu sind flankierende Energieeffizienzmaßnahmen eine wichtige Unterstützung.

Dennoch brauchen wir eben auch CO2 Deponien, zum einen für Emissionen, die wir beim heutigen Stand der Technik nicht vermeiden können, z.B. einem erheblichen Teil der kalksteinbedingten Emissionen aus der Zementindustrie und zum anderen in Kombination mit CO2-Entnahme aus der Luft, z.B. dem Direct Air Capture (DAC) Verfahren. Auch dafür muss CO2 sicher für Jahrtausende deponiert werden. Viele Geologen halten die geologische Speicherung von gasförmigen CO2 für ausreichend sicher, und häufig wird das Sleipner Projekt im norwegischen Teil der Nordsee als Beispiel angeführt, aber es gibt auch Kritik, zum Beispiel durch ein Geomar Forschungsteam.

Sicher ist die Lagerung z.B. dann, wenn CO2 mineralisiert, dies ist der Fall, wenn CO2 mit bestimmten Gesteinen, wie Basalt, reagiert, es entstehen Carbonate. Dafür ist es aber nötig, dass eine große Oberfläche
für die Reaktion zur Verfügung steht. Das kann erreicht werden, indem Gestein gemahlen und an der Erdoberfläche verteilt wird (beschleunigte Verwitterung) oder z.B. in Wasser gelöstes CO2 in poröse
Gesteinsschichten gepresst wird. Das meiste reagiert in wenigen Monaten, nach 2 Jahren sind es ca. 95 %. Dieses Verfahren der In-Situ Mineralisierung wird im Carbfix Projekt auf Island erforscht und wissenschaftlich begleitet. Es hat großes Potenzial, aber ist im Stadium eines Pilotprojektes, um CO2 im Gt Maßstab zu entnehmen und zu deponieren sind noch weitere Entwicklungen und eine entsprechende Skalierung nötig, das wird Zeit benötigen. Auch braucht das Verfahren viel Energie in Form von Elektrizität und Wärme, die jedoch als erneuerbare Energie über Photovoltaik, Windkraft, Geothermie, Wärmepumpen und Solarthermie bereitgestellt werden kann.

Daraus ergibt sich, dass wir ein breites Portfolio zur CO2-Entnahme und Deponierung brauchen, denn es gibt Risiken und Hindernisse in der Umsetzung. Details zu Verfahren sind z. B in öffentlichen zugänglichen Studien des PIK  oder andere internationaler Forschergruppen  nachzulesen. Um die benötigte jährliche Menge zu erreichen ist eine Diversifizierung über viele Verfahren nötig. Alle Verfahren müssen über die gesamte Wertschöpfungkette betrachtet und entsprechend bilanziert werden. Auf die Erforschung der CO2-Deponierung und Schaffung entsprechender Infrastruktur zu verzichten, wie es im derzeitigem
deutschem CCS Gesetz festgelegt ist, verhindert die dringend nötige Diversität. Deshalb brauchen wir neue Regelung, die zum einen die nötigen Entwicklung fördert, aber auch einen fossilen Lock In verhindert.

Es gibt Stimmen welche vollständig auf pflanzliche CO2-Entnahme verweisen. Der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis beziffert das jährlich Potenzial auf 16 Gt CO2, bei schon erwähnten Risiken der dauerhaften und sicheren CO2-Bindung. Da wir ca. 40 Gt CO2Entnahme pro Jahr benötigen genügt dies nicht. Aktuelle Forschung schlägt auch Aufforstung von Wäldern nicht trockenen ariden Regionen vor, einerseits um Landnutzungskonkurrenzen zu minimieren und andererseits um ein beschleunigtes Baumwachstum zu ermöglichen. Hierzu soll kein Grund-, Fluss- oder Seewasser verwendet werden, sondern auf Bewässerung mittels Meerwasserentsalzung zurückgegriffen werden, auf Basis von 100% erneuerbarer Elektrizität. Mehr Forschung wird für diesen Ansatz benötigt. Letztlich indiziert der aktuelle Stand der Forschung einen Portfolioansatz zur CO2-Entnahme und Deponierung, einerseits um das erhebliche und notwendige Volumen zu ermöglichen, aber auch andererseits um Risiken zu senken welche mit Einzellösungen einhergehen.

Nötige Veränderungen

Wie dargestellt brauchen wir für die Bekämpfung der Klimakrise Reduktion der Emissionen und CO2-Entnahme und Deponierung. Für die Bekämpfung der Biodiversitätskrise benötigen wir eine andere Landnutzung. Hier können wir zwei Krisen mit gleichen Maßnahmen bekämpfen. Indem wir die Art der
Landwirtschaft ändern, verhindern wir Treibhausgasemissionen, fördern den Humusaufbau und somit die CO2-Deponierung in den Böden, durch kleinteiligere Landwirtschaft wird das System stabiler und weniger
anfällig für Schädlinge. Für den Schutz und die Förderung der Biodiversität muss der Einsatz entsprechender Chemikalien reduziert werden. Indem wir Naturschutzgebiete schaffen und z.B. in ariden Gebieten die Bewässerung durch die Kombination mit Mehrwasserentsalzung sicherstellen erreichen wir den Aufbau von Wäldern als CO2-Senke und gleichzeitig eine hohe Lebensqualität für Menschen in den Regionen. Wir brauchen eine Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen Ländern, die für hohe Treibhausgasemissionen verantwortlich sind und solchen, in den gute Voraussetzungen für Maßnahmen der CO2-Entnahme und Deponierung gegeben sind. Letztlich sind erhebliche wirtschaftliche Aktivitäten nötig, um die CO2-Entnahme zu realisieren zum Vorteil der Regionen in den dies zu attraktiven Bedingungen möglich ist. Jedoch insbesondere in reichen Industrieländern wie Deutschland müssen wir vorangehen, durch Anwendung
der heute verfügbaren Technologie den Einsatz der fossilen Rohstoffe schnellstmöglich abschaffen. Dabei müssen insbesondere Naturschutz und Nachhaltigkeitskriterien sowohl bei der Errichtung von Photovoltaik- und Windkraftwerken als auch bei der Bioenergie und sämtlichen CO2-Entnahme Maßnahmen berücksichtigt und implementiert werden.

Um solche Maßnahmen umzusetzen, brauchen wir eine breite gesellschaftliche Diskussion, die sich dem Narrativ des „Klimaschutz mit der Brechstange“ entgegenstellt und die Verschiebung der Probleme auf
zukünftige Generationen verhindert. Das ist nicht kompatibel mit einem „Weiter so“ und geringfügigen Anpassungen. Die nötigen teils radikalen Änderungen sind nicht im Vergleich zu den letzten 50 Jahren des
Wohlstands für einige in Industrienationen wie Deutschland zu sehen, sondern im Vergleich zur katastrophalen Entwicklung, die uns allen bevorsteht, wenn wir auf dem bisherigen Pfad bleiben. Naturkatastrophe um Naturkatastrophe mit entsprechenden sozialen Verwerfungen holen uns unsere vergangenen und aktuellen Versäumnisse ein, je mehr, je länger wir mit dem massiven Umsteuern warten.

Die Ärmsten in der Welt trifft es ungleich härter als die Reichen, obwohl sie zum Problem am wenigsten beigetragen haben. Dabei ist es wichtig, nicht nur zu sagen, wogegen man ist, sondern auch entsprechende
Alternativen aufzuzeigen, diese dürfen nicht auf ein einfaches „Entweder – Oder“ reduziert werden, wie es z.B. bei „Klimaschutz versus Wohlstand“ oder „Emissionsreduktion durch Erneuerbare Energie versus CO2-Entnahme“ fälschlicher Weise manchmal der Fall ist. Um es ganz klar zu formulieren: der Wohlstand der wohlhabenden Länder ist für alle Menschen auf unserem gemeinsamen Planeten möglich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir den heutigen Lebensstil auf alle übertragen können. Neben einer Energieversorgung auf Basis von 100 % Erneuerbaren Energien ist dafür auch eine strikte Kreislaufwirtschaft und eine Abkehr vom heute üblichen Konsum kurzlebiger Güter mit hohem Ressourcenbedarf sowie eine nachhaltige Landwirtschaft mit gesünderer Ernährung nötig. Insbesondere kann dies nur dauerhaft erreicht werden, wenn wir wieder zu stabilen Klimaverhältnissen zurückkehren. Eine Energie- und Klimawende hört nicht bei 100 % Erneuerbaren Energien auf, sondern nutzt dies als unabdingbare Basis, um auch wieder ein stabiles Klima zu erreichen, welches wir leider schon seit den 1980er Jahren überschritten haben. Mit einem positiven Bild einer lebenswerten und gerechten Welt können wir uns der Angst der Menschen vor Veränderung entgegenstellen. Wir haben die Chance mit 100 % Erneuerbaren Energien ein nachhaltiges Energiesystem zu erschaffen, welches Wohlstand für alle Menschen ermöglicht und diesen auch erhalten kann mit Hilfe eines stabilen Klimas. Für die Verankerung von politischen Zielen brauchen wir wissenschaftlich fundierte Untersuchungen, mit denen dieses Bild faktenbasiert untermauert werden kann.